Dystonie als Behinderung
Sozialmedizinische Gesichtspunkte und Fragen der Begutachtung nach dem Schwerbehindertengesetz
Von Frank Erbguth
Bei einer Dystonie spielen neben dem Erkennen der Krankheit und ihre Behandlung sozialmedizinische Gesichtspunkte eine große Rolle. Ihnen wird im Medizinbetrieb oft wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Hier geht es um Fragen zur Arbeitsunfähigkeit, der eventuellen Berentung, der Begutachtung nach dem Schwerbehindertengesetz oder Fragen zum Führerscheinerwerb oder in sehr schweren Fällen zu Ansprüchen aus der Pflegeversicherung.
Dystonie-Betroffene haben es schwer, sozialmedizinisch angemessen behandelt zu werden, weil den mit der Begutachtung betrauten Ärzten, z. B. bei den Versicherungsträgern oder medizinischen Diensten der Krankenkassen, Dystonien nicht hinreichend bekannt sind. Einer sachgerechten Beurteilung steht nicht selten noch die überholte Auffassung entgegen, Dystonien seien in erster Linie eine psychische Erkrankung. Heute ist sich die Neurologie einig, dass es sich bei Dystonien primär um organisch bedingte Funktionsstörungen des Zentralnervensystems im Bereich der Basalganglien handelt.
Bei der sozialmedizinischen Bewertung von Dystonien geht es um folgende Bereiche:
- Begutachtung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) und Anerkennung des Grades der Behinderung (GdB) bzw. einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE).
- Arbeitsunfähigkeit
- Anspruch auf Rehabilitation (Rehabilitation vor Rente)
- Fragen der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit
- Aspekte der Fahrtauglichkeit
- Ansprüche aus der Pflegeversicherung
SCHWERBEHINDERTENGESETZ: GRAD DER BEHINDERUNG
Eine Anerkennung als Schwerbehinderung setzt eine körperliche, geistige oder seelische Funktionsbeeinträchtigung voraus, die länger als sechs Monate andauert. Der Betroffene muss die Anerkennung beim zuständigen Versorgungsamt beantragen, wo Ärzte die entsprechenden Gutachten erstellen unter Zuziehung der Berichte über bisherige ärztliche Behandlungen. Mit der Anerkennung wird ein bestimmter GdB/MdE (Grad der Behinderung / Minderung der Erwerbsfähigkeit) festgelegt.
Die MdE ist immer nur auf eine Gesundheitsstörung zu beziehen, die kausal - also ursächlich - auf einen bestimmten Schädigungsvorgang zurückzuführen ist (Beispiel: die einzelne Erkrankung A hat bei Herrn XY zu einer MdE von 50 geführt), während die GdB-Beurteilung final orientiert ist, d. h. darin jede Behinderung unabhängig von ihrer Ursache berücksichtigt werden muss (Beispiel: Herr XY hat durch die Erkrankungen A, B, C und D einen GdB von 70). (Der Begriff der MdE im Versorgungsrecht darf nicht mit dem gleichlautenden Ausdruck "MdE" aus der privaten Unfallversicherung verwechselt werden, da hier andere prozentuale Einteilungen vorgenommen werden.)
GdB und MdE werden im Versorgungsrecht nach den gleichen Grundsätzen bemessen. Beide Begriffe haben die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben zum Inhalt. MdE und GdB sind ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. So ist also nicht eine bestimmte Erkrankung als solche bestimmend für den GdB/MdE, sondern die daraus resultierende Beeinträchtigung. Auch ist der Grad unabhängig von der Auswirkung auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit.
Die Anerkennung von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit durch einen Rentenversicherungsträger oder die Feststellung einer Dienstunfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit erlauben keine Rückschlüsse auf den GdB/MdE, wie umgekehrt aus dem GdB/MdE nicht automatisch auf die genannten Leistungsvoraussetzungen anderer Rechtsgebiete geschlossen werden kann.
Es ist wichtig, dass in den ärztlichen Berichten an die Versorgungsämter nicht nur Diagnosen genannt werden, sonder die klinische Beschreibung der Symptome einschließlich ihrer behindernden funktionellen Auswirkungen z. B. im Alltag.
BERECHNUNG DES GdB
Der Grad der Behinderung (GdB) wird in Zehnergraden von 20 bis 100 festgestellt. Einzel-GdB's von 10, 20 und 30 bedeuteten bei der Berechnung der Gesamt-GdB "also des endgültigen Grades der Behinderung" nicht automatisch zusätzliche Prozente. Die Prozente werden grundsätzlich nicht addiert. Fünf krankheitsbedingte Funktionsbeeinträchtigungen mit je 20 ergeben also keine 100, sondern bestenfalls einen GdB von 20 bis höchsten 40. Entscheidend ist, inwieweit einzelne Behinderungen bereits in anderen "enthalten" sind. Es gibt keine einheitliche "Rechenformel" für die Zusammenfassung der Gesamt-GdB.
Ein Schwerbehinderten-Ausweis wird erst ab GdB 50 meist für fünf Jahre ausgestellt. Wird der GdB auf unter 50 herabgesetzt, behält der Betroffene den Schwerbehindertenschutz noch drei volle Monate nach dem Monat des Inkrafttretens des Bescheides.
MERKZEICHEN
Es gibt noch folgende sogenannte Merkzeichen, die die Feststellung der Schwerbehinderung ergänzen: G (erheblich gehbehindert, aG (außergewöhnlich gehbehindert), H (hilflos), B(Begleitung erforderlich), Bl (blind), RF (Rundfunkgebührbefreit), VB (versorgungsberechtigt), EB (Entschädigung nach Bundesentschädigungsgesetz (BEG), 1.Kl = Bahnfahrt 1. Klasse.
Wichtig sind diese Merkzeichen für bestimmte Vergünstigungen wie KFZ-Steuerbefreiung, Parkerlaubnis, kostenlose Teilnahme am öffentlichen Nahverkehr; Befreiung von Rundfunk-/Fernseh-/Telefongebühren, Eintrittsermäßigungen, kostenfreie Beurkundungen und Beglaubigungen, spezielle Telefon- und Notrufanschlüsse usw. Die Pauschalbeträge der Steuerbefreiung steigen mit dem Grad der Behinderung.
ANHALTSPUNKTE DES BMA
Als Richtlinie für die Bewertung dienen die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) herausgegebenen "Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (1996)". Da nicht alle Erkrankungen einzeln erwähnt sind, gilt, dass bei Gesundheitsstörungen, die nicht aufgeführt sind, der GdB/MdE anhand vergleichbarer Gesundheitsstörungen zu ermitteln ist.
Eine Dystonie-Erkrankung gehört in die Kategorie 26.3 des Kataloges "Nervensystem und Psyche". Hier ist als einzige Erkrankung des extrapyramidalen Systems - zu denen ja die Dystonien gehören - quasi als "Prototyp" die Parkinson’sche Erkrankung aufgeführt, bei der eine GdB-Breite von 30 bis 40 ("geringe Störung der Bewegungsabläufe bis zur Immobilität") angegeben ist. Wörtlich erwähnt wird hier der Torticollis spasmodicus (Zervikale Dystonie): "Andere extrapyramidale Syndrome - auch mit Hyperkinesen - sind analog nach Art und Umfang der gestörten Bewegungsabläufe und der Möglichkeit ihrer Unterdrückung zu bewerten: bei lokalisierten Störungen (z. B. Torticollis spasmodicus) sind niedrigere GdB/MdE als bei generalisierten (z. B. choreatische Syndrome) in Betracht zu ziehen."
ANWENDUNGSBEISPIELE
Bei der Zervikalen Dystonie werden die verschiedenen einzelnen Funktionsstörungen in Einzel-GdB’s zusammengestellt. Beispielhaft: "Gesichtsentstellung" (GdB 0-50), "Wirbelsäulenerkrankung" (bei Nackenschmerzen mit Bewegungseinschränkung) (GdB 20-40), "Schluckstörungen" (GdB 10-40), "Hemianopsie" (wenn das Gesichtsfeld durch eine Drehung eingeschränkt ist) (GdB bis 40), psychische Beeinträchtigung "Neurose" (GdB 0-40); andere dystone Manifestationen z. B. Blepharospasmus oder Handdystonie je nach Grad der jeweiligen Behinderung. Bei der Berücksichtigung von Schmerzen ist das "übliche Maß" allerdings in den jeweiligen Erkrankungen enthalten; gleiches gilt für das Ausmaß psychischer Beeinträchtigung durch die Dystonie, die bereits - wenn sie in "üblichem Maß" vorliegt - in die angegebenen Prozentsätze "eingearbeitet" ist. Nur wenn solche sekundären Krankheitserscheinungen über dieses "übliche" Maß hinaus auftreten, können sie zusätzlich anerkannt werden.
Bei generalisierten Dystonien sind je nach Ausbreitung und Ausprägung GdB’s von 20 bis 100 zu berücksichtigen. Wenn dabei das Gehen als auch die Motorik der Hände gestört sind, ist eine Mindest-GdB von 50 bis 70 angemessen. Wenn allein 50 Prozent der Behinderung durch eine Störung an den Beinen zustande kommen, ist das Merkzeichen "G" gerechtfertigt. Evtl. kommen auch die Merkzeichen "H" und "B" oder bei ständigem (!) Angewiesensein auf einen Rollstuhl "aG" in Frage. Das Merkzeichen "RF" setzt in der Regel einen GdB von 80 voraus, wenn die Betroffenen z. B. wegen ihrer Dystonie bei öffentlichen Veranstaltungen schlecht teilnehmen können (Konzerte / Theateraufführungen u. ä.).
Ist ein Blepharospasmus so ausgeprägt, dass durch den ständigen Augenschluss funktionell eine Blindheit vorliegt, begründet sich ein GdB von 100 mit den Merkzeichen "Bl", "G", "RF" und "H". Bei deutlichen Beeinträchtigungen sind etwa GdB’s von 70 bis 90, bei leichter Ausprägung 10 bis 40 zu veranschlagen.
Bei Dystonien im Mund- und Kieferbereich (Beeinträchtigung des Schluckens, Kauens, der Mimik) sind je nach Ausprägung GdB’s von 20 bis 70 anzusetzen. Wird die Kau- oder Schluckfunktion nur minimal beeinträchtigt sind 10 angemessen, bei entsprechend deutlicher Beeinträchtigung 30 bis 50.
Bei der Spasmodischen Dysphonie (Adduktions- und Abduktionstyp) gilt eine ständige Heiserkeit mit etwa 20 bis 30 als angemessen beurteilt, bei schlecht verständlicher Sprache oder Flüstersprache mit etwa 40 und bei Stimmlosigkeit ein GdB von mindestens 50.
Beim "klassischen" dystonen Schreibkrampf - bei dem die sonstige Feinmotorik ungestört ist - ist der GdB mit etwa 10 bis 20 zu bemessen. Bei dieser Erkrankung wird der vom Patienten oft nur schwer verständliche Unterschied der verschiedenen sozialmedizinischen Kategorien deutlich: Wenn beispielsweise eine Gerichtsprotokollantin einen Schreibkrampf erleidet, kann sie dadurch berufsunfähig werden, erhält aber vom Versorgungsamt korrekterweise "nur" eine GdB-Zumessung von 20. (...)
Prof. Dr. Frank Erbguth ist Oberarzt der Neurologischen Klinik der Universität Erlangen und Leiter der Dystonie-Ambulanz
© Deutsche Dystonie Gesellschaft (1999/2000)
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Dystonie - Der Film

Dieser kurze Film zeigt Ihnen einige Formen der Dystonie und thematisiert auf beeindruckende Weise die Problematik für Dystonie-Betroffene.
Der Film entstand mit Unterstützung der Fa. Ipsen Pharma GmbH
Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses

Langfristiger Heilmittelbedarf bei Tortikollis
Es ist soweit: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat die Indikation Torticollis spasmodicus ab 01.01.2017 in die Indikationsliste für langfristigen Heilmittelbedarf aufgenommen.
Informationen für Patienten gibt es unter dem Link:
Informationen für Ärzte/Therapeuten gibt es unter dem Link:
MyDystonia - Das neue Dystonie-Tagebuch


Mehr zur Tagebuch-APP und wie Sie das Tagebuch nutzen können erfahren Sie hier…
MyDystonia ist ein Projekt von Dystonia Europe.
Die APP entstand mit Unterstützung durch die Fa. Merz Pharmaceuticals
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